Die Edda

Jeder Heide und jeder, der sich mit Heidentum beschäftigt, kennt die Edda. Aber kennen wir sie wirklich? Wenn wir die Edda-Übersetzungen verschiedener Autoren betrachten, stellen wir verblüffendes fest. Ein- und dieselbe Strophe ist mitunter völlig unterschiedlich übersetzt. Sicher, jeder Autor hat seinen eigenen Stil und viele Strophen stimmen inhaltlich überein. Dennoch, bei einer erheblichen Anzahl von ihnen ergibt sich bei verschiedenen Übersetzungen ein völlig anderer Sinn. Da aber allen Autoren das gleiche Original vorlag, müssen zumindest einige, möglicherweise aber auch alle Übersetzungen fehlerhaft sein. Hierfür sind zwei Gründe möglich:

  1. mangelndes Können und
  2. bewußtes oder unbewußtes "Hinbiegen" des Textes, damit dieser die eigene Meinung bestätigt.

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir folgendes wissen: Wer hat eigentlich die Edda übersetzt und in welcher Zeit hat er gelebt? Es gibt im deutschen Sprachraum zwei verbreitete Übersetzungen, die von Karl Simrock (1802-1876) und die von Felix Genzmer (1878-1959). Simrocks Edda erschien zuerst 1851 und Simrock selbst war noch dem Geist der Romantik verbunden. Er glaubte, in den frühen germanischen Texten dem Urtümlichen, Ursprünglichen zu begegnen und behandelte die Texte mit großer Ehrfurcht und Scheu. Problematisch für die Übersetzung waren jedoch andere Dinge. Die Erforschung der altgermanischen Sprachen war noch nicht vollständig abgeschlossen, und Simrock war auch der erste, der eine vollständige Übersetzung der Edda anfertigte. Am stärksten auf die Genauigkeit der Übersetzung hat sich aber die Tatsache ausgewirkt, daß Simrock, wenn es nur irgend möglich war, den Stabreim beibehalten hat. Dadurch erhöht sich zwar der poetische Wert, die Übersetzung nähert sich aber einer Nachdichtung.

Genzmers Werk ist unter Mitwirkung von Germanisten wie Andreas Heusler entstanden und erfaßt den Urtext genauer. Mittlerweile hatte man die altgermanischen Sprachen auch exakt erforscht. Allerdings wird in dieser Ausgabe an der Originalschrift, dem "Codex Regius" herumkorrigiert (die Aufzählung der Zwergennamen in der Völuspa fehlt beispielsweise völlig). Heusler selbst sagte: "Ferner hat sich unsere Edda erlaubt, an den Gedichten etwelche höhere Kritik zu üben: störende Zutaten zu entfernen, Lücken zu füllen, Verschobenes umzustellen." Soviel Ehrgeiz ist ja sehr erfreulich, allerdings über alle Massen selbstgefällig. Der Leser kann sich kein Bild vom Text machen, selber nachsinnen, sondern erhält einen vorgefilterten Gedankenbrei.

Es gibt mittlerweile diverse Übersetzungen, die sich mehr oder weniger genau an das Original halten, eines dürfte jedoch allen Autoren gemein sein. Sie forschen und arbeiten aus philologischen und historischen Motiven, ihr Gedanken- und Weltbild ist christlich. Vielleicht ist es auch atheistisch oder naturwissenschaftlich oder eine Mischform, in jedem Falle ist es nicht heidnisch im Sinne unserer Überlieferung.

Nun sind Mängel in der Übersetzung aber nicht die einzige Hürde, mit der jeder Interessierte zu kämpfen hat. Liest man sich z.B. ein beliebiges Lied der Göttersage durch, so bleibt einem vieles halbklar. Eine hübsche, mitunter etwas martialisch wirkende Geschichte wird erzählt, man ist erfreut, doch die Gedanken bleiben an der Oberfläche. Es wird einem nicht klar, welch tiefes und vielschichtiges Weltbild in den harmlos wirkenden Liedern verborgen ist. Sich einfältig zu schelten, wäre sicher verfehlt, denn man hält in Händen ein Lehrwerk für Skalden. Ein Buch für Barden also, die viel Zeit und Eifer darauf verwendeten, die Mythen zu lernen und zu verstehen und in kunstvollen Gedichten und Gesängen dem Volk darzubringen. Im Gegensatz zur Bibel, die ja durch ihren doch sehr simplen Satzbau auffällt und für das Volk geschrieben wurde, haben wir hier ein Lehrwerk für Dichter und Denker vor uns. Nun kann es in einer Gesellschaft nicht nur Dichter und Denker geben, denn wie sähe eine Gesellschaft aus, die nur aus Skalden bestünde, die sich gegenseitig ihre geistigen Ergüsse ins Ohr trällerten. Nicht jeder, der heidnisch interessiert ist und seine kulturellen und mythologischen Wurzeln kennenlernen will, hat Zeit und Muße genug, sich das gesamte heidnische Weltbild unserer Vorfahren selbst zusammenzusuchen.

Es ist daher an der Zeit, eine genaue Übersetzung zu fertigen und darauf basierend eine erklärende Beschreibung der Szenerie zu geben. So gerüstet kann sich der Leser ans Werk machen, eine umfassende naturmythologische und kulturelle Deutung des Textes zu erfahren.

Genau diese Idee hatten wir vor geraumer Zeit. Da in der Heidnischen Gemeinschaft in den Jahren sehr viel an Wissen und Kenntnis um die Überlieferung zusammengetragen wurde, sind wir auch geeignet, diese Aufgabe anzugehen. Um dem Leser einen Eindruck zu geben von den Unterschieden in den einzelnen Übersetzungen, möchte ich einige Beispiele geben aus dem ältesten und wohl umfassendsten Lied der Göttersage, der Völuspa.

Hier heißt es bei Simrock in Strophe 33:

"Ihn mästet das Mark gefällter Männer,
Der Seligen Saal besudelt das Blut."
Genzmer ist nicht viel besser:
"Er füllt sich mit Fleisch gefallner Männer,
Rötet mit Blut der Rater Sitz."

Richtig muß es heißen:

"Er nährt sich von der Lebenskraft Sterbender,
Der Wohnsitz der Herrschenden blutet rot."

Dies übrigens erst in Strophe 41 nach dem Original. Fühlt man sich bei den ersten beiden Übersetzungen an das Szenario eines zweitklassigen Horrorfilms erinnert, so erkennt man bei der richtigen Übersetzung die Mystik des Bildes. Er, der Fenriswolf (geht aus der vorigen Strophe hervor), nimmt nach dem Tod eines Menschen (nicht nur Mannes!) dessen Lebenskraft auf. Die Lebenskraft, ein Teil dessen, was den Menschen von den Göttern gegeben wurde, geht also beim Tod von dieser Welt, Midgard, in eine andere der neun Welten. Der rot blutende Wohnsitz der Herrschenden kann zunächst einmal ganz einfach als die besonders farbenprächtigen Sonnenuntergänge des Herbstes gedeutet werden.

In Strophe 26 heißt es bei Simrock:

"Heid hieß man sie, wohin sie kam,
Wohlredende Wala, zähmte sie Wölfe.
Sudkunst konnte sie, Seelenheil raubte sie,
Übler Leute Liebling allezeit."

Genzmer schreibt dazu in Strophe 16:

"Man hieß sie Heid, wo ins Haus sie kam,
Das weise Weib, sie wußte Künste:
Sie behexte Kluge, sie behexte Toren;
Immer ehrten sie arge Frauen."

Bei uns können sie lesen, übrigens in Strophe 22:

"Heid hieß man sie, wohin sie kam,
Weissagende Vala, des Zauberns kundig,
Seidkunst konnte sie, zauberte sinnbetört,
Arger Frauen Liebling allezeit."

Seidkunst, eine Art der Zauberei, als Sudkunst zu übersetzen, ist sicher etwas unglücklich, da dies doch sehr ans Teekochen erinnert, die folgenden Fehler sind jedoch gravierender. Die Vala Heid raubt weder Seelenheil, noch behext sie irgendjemanden, sie zaubert sinnbetört, d.h. in Trance. Nicht nur das Orakel von Delphi, sondern auch jeder Schamane uns jede Schamanka versetzten sich in Trance, um Visionen zu erlangen und durch die einzelnen Welten zu reisen. Der Ausdruck "arge Frauen" meint Frauen, die sich ihre Kraft und Eigenständigkeit bewahrt haben und von denen Heid sicher gerne angerufen wird.

Ein drittes Beispiel soll diesen Exkurs abrunden. In Strophe 51 bemerkt Simrock:

"Surtur fährt von Süden mit flammendem Schwert,
Von seiner Klinge scheint die Sonne der Götter."

Genzmer hat hierzu zu sagen (Strophe 44):

"Surt zieht von Süden mit sengender Glut;
Von der Götter Schwert gleißt die Sonne."

Richtig heißt es in Strophe 52:

"Surtur fährt von Süden mit der Zweige Verderben,
Der Sonne Schein ist das Schwert der Götter."

Beide Autoren verzichten auf das Kenningar (Umschreibung) "der Zweige Verderben" für das Feuer. Schade! Beide schaffen auch nicht die Abstraktion von einem wirklichen Schwert zu einem Symbol für das Schwert. Die Sonnenstrahlen sind der Götter Waffe, aber ihre Kraft wird schwächer, wenn die Nächte länger werden und die chaotischen und lebensfeindlichen Kräfte der Riesen im Herbst und Winter die Oberhand gewinnen.

Diese drei Passagen machen auf eindrucksvolle Weise deutlich, wie notwendig eine neue Bearbeitung der Eddamythen ist. Die Völuspa ist bereits neu übersetzt, beschrieben und umfassend gedeutet worden, an ihrer Illustrierung wird gerade gearbeitet. Die weiteren Eddalieder werden folgen. Wem die obigen Deutungen und Erklärungen zu knapp und kurz gefaßt sind, dem kann nur gesagt werden, daß eine umfassendere Deutung und Erklärung den Rahmen dieses Arikels sprengen würde. Es kann jedoch soviel verraten werden: Es ergibt sich ein reiches und unglaublich vielfältiges, dabei aber in sich geschlossenes Weltbild. Sie dürfen gespannt sein!

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